„Wing Chun ist Leben und explosives Wing Chun ist noch mehr Leben“ – Wolfgang Kießling, Verbindungsoffizier

Ich bin mittlerweile 57 Jahre alt. In diesem Zeitraum hat sich vieles gewandelt und ich habe vieles erleben dürfen. Habe als Schwimmer, Fechter, später als Kletterer und Läufer immer wieder viel Spass gehabt. Auch persönlich gab es vieles in der Zeit zu erleben, aber auch durchzustehen. Der härteste Schlag war dabei der Tod meiner Frau…

Vor fünf Jahren verschlug es mich beruflich nach Nürnberg. Mit Anfang fünfzig merkt man dann doch schon, dass die Beweglichkeit nicht mehr so gut ist, wie in jungen Jahren. Also suchte ich nach Alternativen. Teakwondo- das war mir zu hart, Yoga-damit konnte ich mich nicht anfreunden, da fiel mir durch Zufall auf eine Internetseite Shaolin-Kung-Fu auf. Somit schaute ich mir zwei oder drei Schulen an. Nun ja, ein Probetraining-der Lehrer ungepflegt mit fettigen Haaren, ein zweites- der „Neue“ war willkommenes Objekt zum „testen“, in der dritten Schule – sofort nach dem Probetraining drückte man mir den Vertrag in die Hand – sofort und gleich unterschreiben. Das sah also alles nicht so gut aus. Schließlich fand ich eine kleine Schule. Dort eröffnete mir der Lehrer, dass er so viel Zuspruch hat und zu wenig Zeit für mich. Sein Vorschlag war nach Erlangen zu gehen, um dort zu trainieren. Also fuhr ich zu der Schule und lernte meinen Lehrer kennen, den ich bis heute als meinen Lehrer sowohl im privaten als auch im Wing Chung sehr schätze und achte. Hier erwartete mich ein sehr feiner aber beachtlicher Unterschied – es begann damit, dass ich vier Wochen Zeit für das kostenfreie Probetraining bekam. Dann setzte sich das Training fort und ich durfte lernen, was es heißt Kampfkunst auszuüben. Kampfkunst und nicht Kampfsport, Achtung und Respekt – dazu kamen noch Entspannungsmethoden aus dem Qi Gong, für mich damals völlig neu und Einführung in die TCM.

Nach meiner beruflichen Rückkehr nach Sachsen wollte ich diese Kampfkunst gern weiterführen und sie sehr gern weitergeben. Somit eröffnete ich die Shaolin-Schule Dresden. Ich selber stand noch am Anfang, zweiter Schülergrad und suchte einen Weg um mich weiterzuentwickeln und zu lernen.

Und auch hier fand ich durch und mit meinem Lehrer den richtigen Weg für mich. Dieser Weg hieß einmal im Monat nach München in die Wing-Chun-Akademie. Ich habe dieses nie bereut. Die Aufnahme von meinen beiden Meistern, von allen Lehrern sowie allen anderen Schülern, welche rang- und erfahrungsmäßig viel höher standen, war so warm und so herzlich, als wäre man schon immer Bestandteil der Familie.

Ich habe hier Bescheidenheit kennengelernt, sich nie besser fühlen als Andere, eine innere Ruhe und Gelassenheit, die ich dann auch in mein tägliches Arbeitsleben übertragen konnte, ich habe gelernt, dass Urteile über andere Menschen oder Voreingenommenheit die größten Fehler sind und dass dieses nicht notwendig ist. Ich durfte lernen, was es heißt die Energie zwischen den Händen zu spüren und ich durfte die unbeschreibliche Resonanz erleben, die vor allem auch die Familienmitglieder meiner Schule mir widerspiegelten.

Freunde, die mich schon länger oder sehr lange kennen sagen jetzt von mir, dass ich mich verändert habe. Ruhiger, nicht mehr spontan oder mit dem Kopf durch die Wand, zuhören können, ausreden lassen – natürlich noch immer gern lachend und fröhlich durch die Welt gehen – aber auch so sein wie man ist, ohne „Maske“ und vor allem „geerdet“. Ich durfte mit Hilfe meiner Meister und befreundeten Lehrer lernen, was wichtig ist und was nicht. Meine Meister haben mir geholfen u.a. in einer sechstägigen Form, nach zehn Jahren den Tod meiner Frau zu verarbeiten und mich frei zu machen. Und jedes Training in der Münchner Akademie oder die Trainingslager bringen mir nicht nur neue Techniken, sondern vor allem die Erkenntnis: Ich bin – also bin ich!

In der heutigen Welt, wo jeder denkt, es besser zu wissen oder zu machen, in einer Welt voller Widersprüche, in einer Welt in der man sehr oft der Auffassung ist, dass der Stärkere immer recht hat, in einer Welt, in der sehr oft Menschen für sich in Anspruch nehmen, dass nur sie die einzig Wahren sind – in so einer Welt ist es sehr wohltuend zu sehen, dass es noch immer Menschen gibt, die sorgsam voller Achtung miteinander umgehen und gemeinsam Spaß haben. Das ist unsere Akademie mit ihren Schulen. Es spielt keine Rolle welchen familiären Hintergrund man hat, es spielt keine Rolle ob man Christ, Moslem oder Atheist ist, es ist unwichtig ob man eine Glatze, Locken oder glatte Haare hat, die Hautfarbe, das Geschlecht – es ist alles unwichtig – wichtig ist das Miteinander, das gemeinsame Reden, Zuhören, Lachen und Trainieren, das gegenseitige Helfen, auch wenn man länger dazu braucht, aber auch ein ernstes Wort – offen und direkt, wie das in einer Familie üblich ist.

Was wollte ich mit diesen Zeilen ausdrücken – ja, klettern, Bergsteigen, laufen ist alles sehr schön und ich möchte es nicht missen (auch wenn mittlerweile die Wände steiler geworden sind), aber die Entwicklung durch diese Kampfkunst, gerade durch das System des explosiven Wing Chun, an mir selbst, ist mit nichts zu vergleichen. Explosives Wing Chun ist mehr als nur ein Sport oder eine schöne Bewegung – es setzt in einem Energien frei, ich durfte und lerne noch was „innere Kampfkunst“ heißt und man bewegt sich in jeder Lebenssphäre anders. Aus meiner Sicht ist diese Kunst eine Art zu Leben, denn sie durchdringt alle Bereiche der eignen Persönlichkeit. Ich kann nicht nur auf der Matte der „Lehrer“ sein – nein, man muss auch im täglichen Leben zeigen wer man ist – auch wenn das nicht immer einfach ist.

Fast hätte ich es vergessen – ein ebenfalls wichtiger Punkt ist, dass bei allen Schülern und auch bei mir selbst, der gesundheitliche Aspekt sich wesentlich verbessert hat. Rückenschmerzen sind verschwunden, der Körper wird beweglicher, die Gelenke sind nicht mehr steif, „man wird gefühlt jünger“.

Wing Chun ist Leben und explosives Wing Chun ist noch mehr Leben

In diesem Sinn ist auch die Frage beantwortet, ob man mit einem reiferen Alter oder mit körperlichen Einschränkungen diese Kunst erlernen kann – ja, man kann es und es bringt jede und jeden weiter.

Meinen beiden Meistern Önder und Taner, meinem Lehrer Franz und all anderen Freunden, die mir jedes Mal helfen, wie gesagt Freunde, mein tiefster Dank und ich freue mich auf die nächsten Schritte mit und durch Euch.

~ Wolfgang Kießling, Verbindungsoffizier